Tödliche Liebe

Abwesend saß er neben dem Telefon. Er wartete. Er wartete  seit Stunden. Bei jede kleinsten Geräusch zuckte er zusammen. Doch er wartete vergebens. Selbst wenn das Telefon klingeln würde, John wäre es nicht. John würde nicht anrufen- nie wieder. Als er sich dessen bewusst wurde, brach er in Tränen aus. Endlich. Zu lange hatte ihn der Schock daran gehindert.  John, fragte er sich. Wie konntest du mich alleine lassen? Alleine mit diesem Schmerz, in dieser Einsamkeit?

Das Telefon klingelte und er zuckte erschrocken zusammen, hob mit zittriger Hand ab. Hoffnungsvoll und verzweifelt hauchte er: „Ja?“

Mehr brachte er mit seiner brüchigen Stimme nicht heraus. „André? Bist du es?“ fragte die ruhige Stimme seiner Mutter am anderen Ende der Leitung. André nickte, dann wusste er, dass sie ihn nicht sehen konnte. „Jah, Mam‘..!“ „Hey Kleiner…“ Sie hatte ihre Besorgte-Mutter-Stimme drauf. „Weinst du?“ Was für eine frage, dachte André. Er schluckte. „Hmm… Kann ich für ein paar Tage zu dir kommen? Hier ist alles so…  so voller Erinnerungen!“ Er war erstaunt, dass er so klar denken und sprechen konnte und verpasste durch diese Überlegung die Antwort seiner Mutter. „Ja klar!“ Wiederholte sie sanft. „Wenn du willst, dann hole ich dich gleich ab.“ „O.k. …“ mehr brachte er nicht fertig zu sagen. „Bis gleich!“ Sie legte auf.

Eine halbe Stunde später waren sie im Haus am Waldrand. Dort angekommen zog André sich in sein Zimmer zurück. Mit seinen 18 Jahren war er manchmal noch sehr kindlich. Er liebte es, wenn seine Mutter sich um ihn kümmerte. Denn damals, als sein Vater noch bei ihnen gelebt hatte, hatte er kaum Aufmerksamkeit bekommen und wenn, dann in Form von Schlägen oder Beleidigungen. Seine Mutter betrat mit zwei Tassen Kakao in der Hand das Zimmer. „Darf ich mich zu dir setzten?“ Er nickte. Zärtlich legte sie ihren Arm um seine Schulter. „Mach dir keine Vorwürfe, niemand hätte das ahnen können.“ Wieder liefen ihm heiße Tränen über die Wange. „Ich hätte es wissen müssen… ich… ich hab ihn doch geliebt. I-Ich wusste doch von seinen Problemem.“ „Psst!“ Sie legte ihren Finger auf seine Lippen. „Du kannst nichts dafür!“ wiederholte sie. Niemand konnte das. „Ich will ohne ihn nicht leben!“ „Sag das nicht… Es gibt immer Menschen die dich lieben…!“ Er kuschete sich an seine Mutter. „Ich weiß…!“ sagte er, doch in Gedanken hatte er seine Entscheidung gefällt. Dann schweigten sie miteinander. Nach einer gefühlten Stunde stand Andrés Mutter auf um etwas zu kochen.

Kaum hatte sie das Zimmer verlassen griff er nach Stift und Papier.

Liebe Mama,

Es tut mit leid, aber ich kann ohne John nicht leben. Ich weiß nicht genau, warum er gestorben ist, doch im Tod sind wir weder vereint. Wir hatten uns doch versprochen, dass wir immer zusammen bleiben, egal was passiert. Egal WAS.

Es tut mir unendlich leid, Mama.

Ich liebe dich,

André

Eine Träne landete auf der frischen Tinte. Er heftete das Blatt an die Innenseite seiner Zimmertür. Und jetzt? fragte er sich. Er schlich sich nach einer kurzen Überlegung isn Bad. In der Hand hielt er eine Packung Aspirin. Er lehnte die Badezimmertür an und suchte die alten Rasierklingen seines Vaters. Als er sie gefunden hatte, schluckte er eine halbe Packung. Er wollte nicht, dass sein Blut gerann, bevor seine Seele den Körper verlassen hatte. Schaden würde das Schmerzmittel jetzt wohl kaum noch. Er setzte die Rasierklinge an. Ein leiser Schmerz durschströmte seinen Körper. Er liebte und genoss dieses vermisste Gefühl. Lange hatte er darauf verzichten müssen. Wegen John. Immer wieder John. Jetzt war er auf dem Weg zu ihm. Er fand es faszinierend, wie sein Blut erst in dünnen Fäden, dann immer dicker über seinen Arm lief. Immer mehr rote Linien zogen sich über seinen Arm. Als er spürte, wie ihm schwindelig wurde drückte er so fest zu, wie er konnte. Er brach zusammen. Sein Kopf schlug auf den Rand der Badewanne. „Im Tod vereint…!“ Das war sein letzter Gedanke, bevor alles still und schwarz um ihn wurde…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert